Die Kräuterlies - eine Waldgeschichte

Die Kräuterlies - eine Waldgeschichte Seine Eltern hatten ihn auf den Namen Adalbert taufen lassen, aber zeitlebens wurde er nur Bert oder - mit freundlichem Unterton - Bertl genannt. Das klang schlichter und passte zu seinem einfachen Wesen. Zwar hing sein Vaterhaus wie ein Schwalbennest hoch oben am Talhang, doch seine wahre Heimat waren die Meiler im Grund, die sein Vater als Köhler betrieb. Es war noch zu der Zeit, als im tief eingeschnittenen Waldtal ein Hammerwerk dröhnte, wo die Holzkohle das harte Eisen zur Rotglut brachte.

Schon im Kindesalter zogen ihn die stillen Waldwinkel mit den versteckten Kohlstätten mit geradezu magischer Kraft an. Er liebte es, dem Vater bei seinen Hantierungen behilflich zu sein, die sauber im Kreis geschichteten, langen Holzscheite mit Fichtenstreu abzudecken und sorgsam mit Löscherde zu bestreuen. Dann folgten unvergessliche Nächte, die er an der Seite des Vaters in der Köhlerhütte verbringen durfte. Die Rauchschwaden zogen vom Meiler zu den Baumwipfeln empor und verloren sich im fahlen Licht des Mondes. Der Vater maßte immer nach dem Rechten sehen und ständig die Kohlstatt beobachten. Da blieb keine Zeit zum Schlafen, wohl aber zum Erzählen. Bert nahm begierig auf, was der Vater - sonst ein stiller, bedächtiger Mann - in solchen Nächten zu berichten wusste:

»Schau, uns Köhler hat es schon immer gegeben. Wenn wir auch verrußt aussehen und viele Leute verächtlich auf uns herabblicken, sind wir doch immer ehrlich und fromm geblieben. Und so mancher Rittersmann hat am schwarzen Meiler etwas ganz Wunderbares entdeckt. Willst du eine Geschichte davon hören?«

Der Junge kroch in der Kühle der Nacht näher an den Vater, und während ab und zu ein scheuer Nachtvogel seinen Ruf ertönen ließ, weckten die Worte in der Vorstellung des Buben traumhaft schöne Bilder. Der Vater begann:

»Wenn du größer bist, schauen wir uns das Felsennest an, wo einst die Wildensteiner gehaust haben, stolze und jähzornige Ritter, sag ich dir. Tief drunten im Steinachtal aber hat ein Köhler gewohnt, denn die Ritter brauchten scharfe Schwerter, und der Waffenschmied am Eingang zur steilen Klamm hat immerzu scharfe Schneiden machen müssen, aber ohne Holzkohle ist's halt nicht gegangen. Merk dir's nur, das Harte in der Welt kannst du niemals mit einem Harten erweichen, du brauchst dazu etwas Feines, Zartes.

Ja, dem Köhler damals ist die Frau schon bald gestorben, aber eine Tochter war da, eine Schönheit von einem Menschenkind. Die hat ihrem Vater bei allem geholfen. Eines Tages erschrickt sie, weil es plötzlich im Unterholz knackt und ein junger Ritter auf die Lichtung tritt. Er hätte sich verlaufen, meint er, und möcht bloß wissen, wo's zur Burg der Wildensteiner geht. Ach, wer weiß, ob er die Wahrheit gesagt hat! Die Köhlerstochter bietet ihm Essen und Trinken an, aber das will er nicht - nur eines, ob ei wiederkommen darf. »Ja«, hat das Mädchen gesagt, »der Weg durchs Tal steht jedem frei!«

Der Junker ist auch immer wieder gekommen, und die beiden haben sich richtig geliebt. Wie das der alte Köhler erfährt, sagt er zu seiner Tochter, sie soll doch von dem jungen Ritter lassen, so etwas wird nie gut gehen. Und wie der Schloßherr von Wildenstein von der Liebschaft erfährt, schreit er seinen Sohn an: >
Sofort verbiet ich dir, dich noch einmal mit dem Köhlerskind zu treffen!«

Aber das hat alles nichts geholfen. Einmal ist der alte Wildensteiner zur Jagd geritten und trifft das junge Paar im Köhlergrund. Er stellt den Junker zur Rede, steigert sich in große Wut und sticht seinen eigenen Sohn mit dem Degen nieder. Droben auf dem schmalen Burgfriedhof hat man ihn begraben. Das Mädchen aber ist oft in hellen Nächten hinaufgeirrt und hat am Grab des Geliebten bittere Tränen vergossen. Bis man's einmal tot auf dem grünen Hügel gefunden hat. Die Leut sagen, dass sie heut noch alle zwei bei Vollmond durch die Wälder schreiten, Hand in Hand - und kein Mensch darf sie in ihrem Glück stören.«

Vor Müdigkeit ist der kleine Bert fast eingeschlafen, die letzten Worte klangen ihm wie aus weiter Ferne entgegen. Er rappelt sich noch einmal hoch, und während ihm der Vater eine warme Decke umlegt, fragt der Bub, halb im Schlaf: »Warum dürfen denn zwei nicht zusammenkommen, die sich so lieben,Vater?« Er ahnt nichts von seinem späteren Schicksal, wohl aber der alte Köhler, denn das Schweigen des Waldes macht die Menschen klug, und deshalb antwortet er: »Sie kommen schon zusammen, Bertl, aber halt anders und auf ewig.« Dieser Satz senkt sich wie ein Vermächtnis in die weiche Seele des Jungen.

Die armselige Schule seines Heimatdorfes durcheilte Bert im Sauseschritt. Das Klassenzimmer lag im alten, muffigen Hirtenhaus, ein ausgedienter Korporal waltete seines Amtes als Schulmeister. Er war nicht gerade mit hohen geistigen Gaben ausgestattet, wohl aber mit einem strengen Sinn für Gerechtigkeit und einer stets frisch geschnittenen Weidenrute. Als der Köhlerbub die Kenntnisse seines Lehrers erreicht hatte und diese sogar zu übertreffen drohte, schickte man den begabten Schüler mit einem hervorragenden Zeugnis in die Freiheit. Nun konnte er sich zunehmend der Köhlerei widmen.

Der Geruch von Rinde, von frischem und verkohltem Holz hatte es ihm angetan. Mit ganz besonderer Vorliebe schnitzte er an der Meilerstatt Holzrechen für die Bauern, Axtstiele für den Hammerschmied und handliche Knüppel, die als »Färbersknittl« in den aufstrebenden Schwarz- und Schönfärbereien der Städte begehrt waren. Viele seiner Erzeugnisse gingen sogar auf große Floßreise bis in ferne Länder.

Bert liebte die einsamen Stunden vor dem rauchenden Meiler, er freute sich aber auch über jede menschliche Begegnung in seiner Abgeschiedenheit. Beeren-, Pilz- und Reisigsamm-lerinnen, Pechkratzer und Pechsieder, Holzhauer und Forstleute statteten ihm gern einen Besuch ab, weil sie seine offene, freundliche und arglose Art schätzten. Fuhrleute und Floßknechte brachten so manche Neuigkeit in seinen stillen Waldwinkel.

Es war an einem Sommerabend. Die Sonne hatte sich bereits hinter die mächtigen Fichtenwipfel verkrochen, der Meiler rauchte gleichmäßig, und der junge Köhler starrte auf die länger werdenden Schatten im Grund. Da stand mit einem Mal eine Gestalt vor ihm, die er schon oft durch das Gebüsch hatte huschen sehen. Das schlanke Mädchen trug ein grobes, blaues Gewand und einen Korb auf dem Rücken. Das braune Gesicht war von einem roten Kopftuch umrahmt, und ein Paar abgrundtief dunkler Augen blickte Bertl an, der wie verklärt auf sie starrte.

Die »Kräuterlies«, manchmal auch etwas geringschätzig » Kräutera« genannt, hatte wohl mit Absicht auf ihrem Heimweg die Meilerstatt aufgesucht. Mit ihrem Korb voller Beeren und Pilze war sie am frühen Morgen aufgebrochen, um die frische Ware in der fernen Stadt feilzuhalten. Nun war der Korb leer, und vom Erlös konnte das Mädchen mit seiner Mutter wieder für einige Tage leben. Das windschiefe Holzhaus der beiden Waldbewohnerinnen stand hoch oben, wo das Tal begann, auf einer idyllischen Lichtung. Die Leute mieden die Hütte und die beiden Frauen;
man erzählte sich, es sei dort oben nicht ganz geheuer: Die schon recht betagte Mutter der Lies könne Zauberlränklein zubereiten und habe schon manchen rechtschaffenen Mann betört, es sei also besser für einen Christenmenschen, den beiden aus demWeg zu gehen.

An jenem herrlichen Abend standen Bert und Lies lange beieinander, ohne viel zu reden. Dann setzten sie sich in die Köhlerhütte;
was aber weiter geschah, blieb dem Kohlenbrenner zeitlebens ein Rätsel. Als er ihre rauhe, rissige Hand spürte, dachte er unwillkürlich an ein Stück frischer Rinde, ihrer beiden Blicke sanken ineinander, und mit einem unwiderstehlichen Lächeln reichte sie ihm schließlich ein Fläschchen. Er schlürfte das meisterhaft zubereitete Getränk, das ein wundervolles Aroma wie aus tausend wohlriechenden Kräutern ausströmte, und versank in einen unglaublich schönen Traum.

Als er aus herrlichen Visionen erwachte, saßen sie sich noch immer gegenüber.

Sie lächelte ihm zu und fragte:
»Willst du mich einmal holen, Bertl? Du weißt doch, wo ich wohne. Ich möchte immer bei dir sein.«
Die Antwort, die er gab, konnte er nie vergessen:
»Ja, Lies, ich werde dich holen, mir gehören zusammen!«
Sie drückte ihm einen Kuss auf die heiße Stirn und verschwand in den Wäldern, wie sie gekommen war. Bertl aber war von nun an in eine Unruhe versetzt, die ihn nicht mehr verließ.

Er mag wohl manchem von dieser Begegnung erzählt haben, denn im Wald haben sogar die Gedanken Flügel und machen ihre Runde. Der Botenmatlhes, ein schelmischer Bursche mit kichernder Stimme und undurchsichtigen Gebärden, war der erste, der den jungen Köhler warnte. Die Kräuterlies sei eine gottlose Person, sie verstehe sich aufs Hexen, wäre nur auf ihren Vorteil bedacht und habe ihn, den armen Bert, schon völlig in ihrer Gewalt.

Dann spielte der Fuhrmann den guten, vorausschauenden Freund: »Siehst du denn nicht, Bert, dass es mit der Köhlerei zu Ende geht? Kein Mensch schürft mehr in unseren Bergen nach Eisen und Kupfer, kein Schmelzofen brennt mehr im Tal, bald wird auch der Hammerschmied aufhören, weil die großen Fabriken alles viel schneller und besser herstellen.«

Immer deutlicher wurde der gerissene Matthes: »Schau, wir wollen doch alle nur dein Bestes. Da in der Einsamkeit verkommst du. Du bist eine ehrliche Haut, ein kräftiger Bursch, du brauchst eine Frau, die zu dir passt... Ich wüßt schon eine: Weiter unten im Tal steht die Mühle, und die junge Müllerin ist jetzt ganz allein, seit ihr Mann im Getrieb zu Tod gekommen ist - eine traurige Geschicht! Aber, Bert, sie hat ein Aug auf dich, glaub mir's. Überleg es dir und sag mir wieder Bescheid!«

Nun war es gänzlich zu Ende mit der Ruhe des jungen Köhlers. In wirren Träumen sah er bald seine Lies im Wald umherspuken, auf ihn wartend. Dann tauchte das rotbäckige Gesicht der stattlichen Müllerin auf, die ihn umfassen wollte. Es verging fast ein Jahr, in dem so manches aus dem Leben der Waldleute verschwand, was seit Jahrhunderten bestanden hatte. Zuletzt gab der Hammerschmied seine Werkstatt auf, das gewaltige Wasserrad bemooste sich, und die Holzkohle wartete auf neue Käufer, die es noch nicht gab.

Wenn Bert an seine Lies dachte, plagte ihn sein Gewissen. Allein die Not lehrte ihn nach dem Tod des Vaters, einen anderen Weg zu gehen - und der führte ihn zur Mühle, wo man eine glänzende Hochzeit feierte. Nun blieb die Meilerstatt kahl, aus der verstreuten Löscherde sprossen Hunderte kleiner Fichtenbäumchen, die Köhlerhütte verfiel.

Umso eifriger widmete sich Bert seinen neuen Aufgaben. Er schleppte die Säcke zum Mahlgang und auf die Truhenwagen der Bauern. Er horchte nachts auf das Glockenzeichen aus der Mühle, um neues Getreide aufzuschütten. Ja, er richtete sogar eine Schneidmühle ein - und wenn der Mahlbetrieb beendet war, wuchtete er die Baumstämme ans Sägegatter.

In seiner Arbeitswut, die ihn manches vergessen ließ, kam er äußerst selten in die »gute Stube«, wo die Müllerin mit den Kunden schäkerte, das Geld einnahm und ihn, ihren eigenen Gatten, verächtlich von der Schwelle wies, wenn er mit Mehl oder Sägespänen auf seiner Kleidung erschien. Nicht selten schaute er abends vom Hof aus in die spärlich beleuchtete Stube und erkannte einen feisten Bauern, dem ein Gläschen nach dem andern vorgesetzt wurde und der die Müllerin nach Herzenslust umarmte. Bei alledem merkte er, dass er wohl die Rolle des fleißigen Schaffers zu spielen hatte, niemals aber die des geliebten Mannes.

Als der Herbst den Mischwald bunt färbte, ging unser Müller plötzlich von seiner Arbeit fort und eilte, von innerer Unruhe getrieben, durch den Wald zu seiner früheren Meilerstatt. Die Sonne vergoldete noch einmal den Ort seiner Kindheit und Jugend, der nunmehr ganz verödet lag. Da vernahm er vom Fahrweg her das Klappern von Hufen und das heisere Schreien des Botenmatthes. Er hatte den von zwei Gäulen gezogenen Wagen mit allerlei Möbel stücken beladen, zwischen denen eine gebückte alte Frau kauerte. Hinter dem knarrenden Gefährt aber lief die Kräuterlies, noch immer schön, aber mit verhärmtem Gesicht. Sie blickte herüber zur einstigen Kohlstatt mit Tränen in den Augen. Bert jedoch versteckte sich aus Scham und Trauer hinter einem Busch und weinte. Dann ging er schleppenden Schrittes zur Mühle zurück, die Worte seines Vaters im Ohr: »Sie kommen schon zusammen, Bertl, aber halt anders und auf ewig.«

Tage später hieß es, die »Kräuterweiber« seien verschwunden, bevor ihre klapprige Hütte endgültig einstürzte. In einem entfernten Dorf habe man sie aufgenommen, nun könne jedermann ohne Angst in den Wäldern umherlaufen, ohne verhext zu werden. Als Bert solche Reden hörte, brach er unter der Last der Säcke schier zusammen.